Samstag, 12. März 2016

Können Asperger Stimmungen wahrnehmen?

Kann ein Asperger wirklich keine Emotionen bei anderen erkennen? Keine Stimmungen wahrnehmen?

Eine kürzliche Beobachtung hat mich auf folgendes, fiktives Szenario gebracht. 

Ich betrete den Pausenraum im Büro, vier Arbeitskollegen sind da und ich spüre sofort, dass "dicke Luft" herrscht. Irgend ein Zwist liegt in der Luft. Das nehmen viele Menschen wahr. Denn jeder ist in der Lage, sensitiv wahrzunehmen.

Jeder? Asperger ja wohl nicht. Oder?

Nein, mein Sohn würde es wohl tatsächlich nicht wahrnehmen. Aber nicht, weil er es nicht kann. Er schirmt sich selber ab. Während er den Pausenraum betritt, würde er ein komplexes Thema gedanklich bearbeiten, gleichzeitig Schritte zählen, gleichzeitig durchgehen, welche Kaffeesorte er wählen sollte, inkl Vor- und Nachteile abwägen und gleichzeitig sich parallel 8 Szenarien ausmalen, was in der gleich folgenden sozialen Interaktion alles passieren könnte, worauf er vorbereitet sein muss. Worauf ich hinaus will: Er hat ein x-Faches an Gedanken in seinem Kopf, im Vergleich zu anderen. Er muss sich vor Dingen abschirmen, die zusätzlich dazu kommen. 

Aber - und das ist jetzt eine reine Behauptung: Würde man ihm den Auftrag geben, in den Pausenraum zu gehen und zu spüren, wie die Stimmung ist, diese nach Kriterien und nach Punktesystem zu ordnen, wäre er in der Lage, eine gute Einschätzung abzugeben. Wenn er sich darauf konzentrieren kann, macht er ganz erstaunliche Beibachtungen. 

Ich will nie zu schnell urteilen. Er kann über sich hinaus wachsen, wenn ich meine eigenen Gedanken über ihn nicht beschränke.

Montag, 30. November 2015

Hörst du mir überhaupt zu?

Ein dialogisches Gespräch mit meiner 4-jährigen Tochter: Sie sitzt da. Mit großen Augen schaut sie mich an. Etwas Erwartungsfrohes liegt darin. Sie ist ganz bei mir und scheint sich über unseren Austausch zu freuen.

Ein dialogisches Gespräch mit meinem 9-jährigen Sohn. Er sitzt vielleicht. Möglicherweise geht er auch ziellos im Raum umher. Kann auch sein, dass er hüpft oder hampelt. Unsere Blicke treffen sich nicht. Ich rede und hoffe inständig, dass etwas vom Gesagten bei ihm ankommt. Gut möglich, dass er - während ich rede - eine Büroklammer sieht und sich überlegt, wie man diese umfunktionieren könnte. "Darf ich die Klammer auseinander biegen?" 
Atmen. Hört er mir überhaupt zu?

Die großen Augen meiner Tochter verfolgen gebannt mein Gesicht. Wenn meine Erzählung lustig wird, lacht sie mir herzhaft entgegen. Und wenn ich eine Sprechpause mache, setzt sie ein und erzählt mir - unterstützt von einer vielseitigen Mimik und Gestik - was sie dazu zu sagen weiß.

Wenn ich - um Aufmerksamkeit buhlend - bei meinem Sohn etwas Lustiges einwerfe, ... Ja, mit Glück kommt ein Schmunzeln. Mit hoher Wahrscheinlichkeit aber kommt ein Kommentar: "ich kenne da auch noch eine lustige Geschichte ... Neulich im Sportunterricht ..." Atmen. Schon wieder vom Thema abgekommen.

Und nachdem meine Tochter ihre Sichtweise aufgezeigt hat, so entsteht oft eine Idee aus dem Dialog. Wir reflektieren nochmals und verbleiben vielleicht mit einem Vorsatz, einer Abmachung, zB eine Woche später das Gespräch noch einmal zu vertiefen oder im Minimum etwas, das dem Dialog ein klares Ende setzt. 

Mein Sohn kommentiert mein Gespräch nicht. Und wenn ich es dann zusammengefasst und selber ein Ende definiert habe, folgt ein kurzes Ja und im gleichen Atemzug sind wir mitten in einer Erzählung über eines seiner Hobbies. Atmen. Ist irgend etwas von dem, worüber ich mich hier austauschen möchte, angekommen?

Perspektiven-Wechsel. Was würde mein Sohn über das Gespräch sagen?
-->> Es war ein interessantes Gespräch, ich habe auch ein paar neuartige Gedanken darin gefunden über die ich gleich parallel nachgedacht habe. Ich weiß, es wird erwartet dass ich etwas beitrage zu einem Gespräch. Ich habe dieses Mal gut reagiert und die lustige Geschichte vom Sportunterricht eingebracht. Die Schlussfolgerung meiner Mutter fand ich logisch und vernünftig. Wir werden das nun mal so versuchen und sie hat gesagt, wir werden nächsten Montag nochmals drüber reden. Das ist gut. Bedeutet, ich muss dann die Hausaufgaben etwas vorziehen damit ich noch genug Zeit für das Gespräch habe.<

Fazit: Ja, er hört zu. Er hört sogar sehr genau zu. Er registriert alles, wird auch alles umsetzen wie besprochen, sofern er die Ideen für gut befindet und er wird mich am Montag garantiert darauf ansprechen. 

Im Grunde also besteht gar kein Problem. Nur eben, dass ein großer Teil der Mitmenschen klare Erwartungen an einen Gesprächsverlauf hat und wenig oder nicht bereit ist, davon abzuweichen. 

Absurd irgendwie. Aber es braucht Lösungen. Und wenn ich schon verstanden habe, dass kein tieferliegendes Problem in der Kommunikation (auch nicht beim Zuhören!) besteht, so finde ich doch Ideen für den Rest. 

Wir haben also fürs erste eine einfache Regel entwickelt:

Mein Sohn muss nur lernen, während des Gesprächs regelmäßig kurze Bestätigungen zu geben. Das sind Floskeln wie: "ah, interessant", "Okay", "verstanden", "gut", "ja". Das hilft mir schon extrem, dass ich weiß, er ist gedanklich bei mir. Aus seiner Perspektive ist das doof. Denn von unnötigen Füllworten (SmallTalk eingeschlossen) hält er gar nichts. Er kann sogar schlechter zuhören, wenn ich das von ihm verlange. Zumindest so lange, bis er die Gewohnheit intus hat. Er lebt auch nach der Devise: solange ich nichts sage, ist alles okay. Dann bin ich einverstanden, dann finde ich deine Ideen gut, dann hab ich dich lieb und dann bist du grossartig. Andernfalls melde ich mich zu Wort. Ein verhängnisvoller Ansatz, aber er empfindet so. und doch: die wenigen Bestätigungs-Silben klären die Hälfte der Probleme rund ums Zuhören. Probleme, die nur meine Probleme sind und auch rein emotional, dennoch gesellschaftlich verankert und deshalb wichtig genug, darüber nachzudenken.

Es gibt noch viele weitere Elemente, die die Kommunikation vereinfachen. Aber es geht nicht darum, die Kinder zu etwas zu erziehen, was sie nicht sind. Es geht mir einzig darum, meinen Sohn so zu rüsten, dass er mit kleinen Hilfsmittel in alltäglichen Situationen besser klarkommt. 

Wichtig für uns Eltern, aber auch Partner und Freunde scheint mir zu verstehen, dass es verschiedene Arten des Zuhörens gibt. Wir wissen es doch: Asperger (auch andere) können oft nicht filtern. Sie hören und sehen alles gleichzeitig, sind mit der Aufmerksamkeit an mehreren Stellen gleichzeitig. Sie hören die spielenden Kinder draußen, den laufenden Fernseher oder das Kochen des Spagettiwassers in der Küche. Vor allem denken sie während eines Gespräches in massiv komplexen Gebilden und wandern - notabene unfreiwillig - in für uns unvorstellbaren Dimensionen von Gedankengängen umher. Und sie hören dennoch zu, was wir sagen. Das alles ist im Grunde schon mehr als genug, was von ihnen abverlangt wird, ohne dass sie sich dem entziehen können. Dann kommen wir noch mit weiteren Anforderungen, die aus ihrer Perspektive mehr nach Schikane wirken: Stillsitzen, Augenkontakt halten, im richtigen Moment die richtige Mimik aufsetzen, bloß keinen der 100 Parallelgedanken aussprechen, freundliche Bestätigungen geben, sich noch höfliche Gegenfragen ausdenken und das Gespräch mit einer ungeschriebenen Floskelregel beenden, damit der andere glücklich ist. 

Kurzum: Ja, (gut überlegte) Erwartungen an das Kind stellen. Aber reduzieren auf das wirklich wichtige!!! Und nur solange es darum geht, dass ein Thema inhaltlich wichtig ist und verstanden werden soll. Blabla darf natürlich sein, es hilft aber, dieses auch gleich als Blabla zu deklarieren. "Das ist jetzt nicht so wichtig aber ich habe Lust, davon zu erzählen ..."

Denn was wir alle kennen: Permanente Aufmerksamkeit klappt nicht. Die kleinen Köpfe brauchen Ruhe zum Entlüften. Sie schalten sonst selbst auf Durchzug, meist bei unwichtig scheinenden Dingen. Der Klassiker bei uns: Vorwärtsmachen am Morgen. Aber darüber schreibe ich ein ander Mal :-).

Schönen Tag allerseits.



Sonntag, 4. Oktober 2015

Mein Sohn ist definitiv anders > mein persönliches Erwachen

Damals, vor bald 8 Jahren: Ein zierlicher Junge, hübsch und interessant. Aber er tickt irgendwie anders. Oder anders formuliert, er weckt in mir von Anfang an intuitiv das Gefühl, dass ich nicht nach Erziehungsschema 0815 mit ihm umgehen kann. Ein besonders sensibles Kind, war mein erster Gedanke. "Ein Kristallkind", wurde er von wildfremden Menschen genannt, die uns beobachtet haben. Das war, als mein Sohn etwa 2 Jahre alt war. Okay, sogar Außenstehende erkennen die Andersartigkeit. Ich habe gegoogelt, was der Ausdruck bedeutet. Diese spirituelle Bezeichnung schreckte mich auch keineswegs ab. In meinem Kopf festigt sich sogar der Gedanke, mein Sohn ist nicht nicht nur einfach anders, er ist etwas Spezielles. Etwas Besonderes.

Dann, da war er vier Jahre, habe ich zufällig und in anderem Zusammenhang vom Asperger Syndrom gehört. Ich erinnere mich nur zu gut an den Moment, als Google mir Verhaltens-Details präsentierte, die mir sehr vertraut vorkamen. Meine kleine Welt blieb für einige Momente stehen. Instinktiv pickte ich mir jede Information aus den Texten, die nicht auf meinen Sohn zutraf. Ein kleines, inneres Gerichtsverfahren um mir selbst zu beweisen, dass das alles bestimmt nicht auf uns zutrifft. Die Welt musste ja weiterdrehen.

Die nächsten Wochen waren eine Achterbahnfahrt. Das latente Wissen darüber, dass ich nicht einfach ein besonderes Kind hatte, sondern es autistisch und damit krank sein könnte, zerriss mich innerlich fast. 

Heute glaube ich, dass ich in dieser schwierigen Situation intuitiv das Richtige getan habe. Nämlich nichts. Keine Schulpsychiologie, keine psychiatrische Abklärungen, kein Austausch mit Selbsthilfegruppen. Ich habe einzig an mir selbst "gearbeitet". Diese unkontrollierbaren Emotionen und Unsicherheiten haben mich nämlich dermassen eingelullt, dass ich meinen eigenen Sohn nicht mehr unvoreingenommen ansehen konnte. Meine Sorgen waren allgegenwärtig und meine Angst vor dem, was die Zukunft bringen würde, dominierte mein Denken. Dazwischen massive Verdrängungsmuster - wegblenden und schönreden von Offensichtlichem. Das war kein Zustand. 

Daher dieser Entscheid: Es geht nicht um mein Kind, jetzt geht es erst einmal um mich und die Klärung meiner eigenen Gedanken. Das war für mich ganz entscheidend.

Aus meinen damaligen Gedanken, nachdem ich die sortiert hatte:

Mein Sohn bleibt der gleiche, wundervolle Mensch den er bisher war. Eine Diagnose ändert daran nichts.

Ich bin in der Lage, damit umzugehen. Denn sonst wäre er gar nicht erst zu mir gekommen. Ich habe - wie alle Mütter von Aspergern - genau das richtige Rüstzeug für den Umgang mit diesem Kind.

Asperger ist eine Form des Andersseins. Keine klassische Behinderung oder Krankheit, die es zu bemitleiden gilt. Vielmehr ist die Bezeichnung Asperger Syndrom eine Hilfe. Ich verstehe, was mein Sohn mitbringt, was nicht durch Erziehung verändert werden kann, durchaus aber durch den Umgang mit ihm optimiert wird. 

Es dauerte mehrere Monate, bis ich - im Austausch mit meinem Mann - diese innere Ruhe gefunden hatte. Bis ich an dem Punkt war, an dem es keine Rolle mehr spielte, ob er nun die Diagnose bekommt oder nicht. 

Bald darauf, kurz nach dem Start im öffentlichen Kindergarten, fand dann das erwartete Gespräch statt, in dem ich vorsichtig darauf vorbereitet werden sollte, mein Kind abklären zu lassen. Ich war ruhig, da vorbereitet und habe die Abklärungen in Angriff genommen. Step 1: Vorabklärung beim schulpsychologischen Dienst. Step 2: mehrere Termine in der Kinderpsychiatrie und bei wenige Sitzungen bei Fachexperten. Abklärung galt nur für frühkindlicher Autismus, nicht für Asperger Syndrom. Das könne erst etwas später diagnostiziert werden.

Heute, fünf Jahre später, stehen wir mit den Herausforderungen an ganz anderen Punkten als damals. Ich versuche, demnächst wieder mehr über die Einzelheiten zu schreiben.

Rückblickend war es wirklich von großer Bedeutung, zuerst meinen eigenen Frieden zu finden. Mein Gleichgewicht herzustellen.

Ich bin sehr froh, dass ich diese Andersartigkeit so früh erkannt habe. Das Wissen rund um das Asperger Spektrum hat mir im Umgang mit meinem Sohn entscheidend geholfen. Obschon ich erwähnen muss, ich habe nicht allzuviel Literatur gelesen. 

Es ist wie das Anlegen eines Gemüsegartens. Ich weiß, welche Bedürfnisse jede Pflanze hat, damit sie gedeiht. Aber wenn ich meinen Kopf damit Fülle, welche Käferarten alle meine Pflanzen zerstören könnten und was alles sonst für Unheil über mein Gärtchen hereinstürzen könnte, vergesse ich vor lauter Sorgen zu sehen, wie schön mein Garten wächst, welche Blüten blühen und wo sogar schon reife Früchte hängen. Ja, die Käfer kommen. Aber sie sind gar nicht so wild. 

Es geht mir nicht darum, die Situation schönzureden. Mein Asperger Junge ist durchaus ein Abenteuer. Ständig neue Herausforderungen. Aber auch neue Lösungen. Ich kenne kein Kind, das so lernfähig ist, sofern man den Zeitpunkt für die neue Info gut wählt und diese als Unterstützung und nicht als Tadel formuliert. ;-).

Und vieles, was einst unüberwindbar schien, ging einfacher als gedacht. Seit August ist er nun in der dritten Klasse der öffentlichen Schule. Genau wie alle anderen. Spezielle Unterstützungsmaßnahmen seien nicht nötig, es laufe gut, sagte man uns. Wir freuen uns, das zu hören. Und lehnen doch nicht zurück, es kommen im sozialen Bereich bereits neue Themen auf uns zu, ich spüre es :-). 

Hinweis: dieser Beitrag ist aufgrund einer Frage entstanden, die eine Leserin eingereicht hat. 

Samstag, 22. August 2015

Try and Error

"Es gibt Kinder, die gehen 19 Mal eine Rutschbahn hoch, fallen 19 Mal hinunter und beim 20. Mal, da klappt es. Andere Kinder schauen 19 Mal zu, gehen dann die Rutschbahn hoch und rutschen unbeschadet runter." Das hat mir vor 7 Jahren der Kinderarzt erklärt. Mein Sohn war immer schon der Beobachter. "Try and Error" war nie sein Ding. Dann schon eher "Not even Try".

Damals, als ich noch nichts von einem Asperger Syndrom wusste, habe ich diesem Charakterzug keine grössere Bedeutung geschenkt. Heute erst sehe ich den grösseren Zusammenhang dieses kindlichen Verhaltens im Lernprozess eines Asperger Autisten. Bewusst geworden ist mir das im Gespräch mit einem befreundeten erwachsenen Asperger. Er erkärte mir den Aufbau seiner sozialen Skills - ein jahrzehntelanger Prozess:

Jede neue sozialgeprägte Situation bedinge von einem Asperger eine Reaktion. Was für mich intuitiv klar ist, bedeutet für andere quasi ein Blindflug. Mein Freund zeigte mir auf, dass er sich in jeder Situation (zB. wenn man erkennt, man hat jemanden brüskiert) für eine Reaktion entscheiden muss und dann gilt es zu beobachten, ob man die Situation verschlimmert oder verbessert hat. Zwei, drei, fünf oder zehn Mal war es vielleicht die falsche Reaktion. Das kommt dann in die Sparte "Error". Und dann, vielleicht, eventuell, mit Glück wählt man eine Reaktion, die tendenziell die Situation verbessert. Um keinen weiteren Schaden anrichten zu müssen, speichert man diese Reaktion zusammen mit der Ausgangslage ab, für spätere, soziale Verwendung.

Mein Freund hat das ziemlich emotionslos erzählt. Als normaler Weg, wie man sich in der Gesellschaft zurechtfinden kann, bei den Menschen freundlich ankommt. Wahnsinn. So viele Begegnungen, die durch den "Error" im Frust durch Missverständnis geendet haben. Und schlussendlich, nach all der Mühe, wirft man dem Asperger unsensibles Verhalten vor, weil er die erst Beste Reaktion als Standard definiert hat, obwohl es vielleicht noch andere, deutlich bessere Reaktionen gegeben hätte.

Ich will gar nicht wissen, wie viele Asperger nach diesem oder einem ähnlichen Prinzip ihre sozialen Fähigkeiten erlernen mussten. Furchtbar. Und so extrem absurd, denn gerade Asperger Persönlichkeiten lernen meiner Erfahrung nach extrem schnell. Wenn sie denn mal zur richtigen Information gelangen. Ich stelle mir vor, dass ich zur Begrüssung dem ersten die Ohren kraule, dem zweiten ins Gesicht schlage, den dritten ignoriere, den vierten umarme, dem fünften die Schultern massiere und all das nur, weil mir keiner gesagt hat, dass ich die Hand schütteln soll. Sicher, das ist jetzt etwas überzeichnet, ich neige nun mal zu Emotionalität in solchen Themen.

Geführt hat all das dazu, dass ich mit meinem Sohn eine Vereinbarung getroffen habe. Er ist zuständig fürs Sammeln von Situationen, ich für deren Interpretation. Das läuft jetzt zum Beispiel so: Mein Sohn kommt nach Hause und berichtet mir von einer Situation, in der er nicht wusste, wie er reagieren sollte: Drei Mädchen, etwa zwei Jahre älter als er (er 9, die Mädchen 11 oder 12 Jahre) haben ihn auf der Strasse angesprochen. Er hätte sich - wie er es so präzise ausdrücken kann - eine Lampe überhalb der Mädchen gewünscht. Rot bedeutet Gefahr, die wollen hänseln. Orange bedeutet, es ist eine neutrale Frage, kein Grund zu Misstrauen. Grün bedeutet, die finden mich nett, ich kann ganz mich selbst sein. Leider gibt es keine solche Lampen. Aber er macht es dennoch clever: Er merkt sich alle Einzelheiten und gibt sich Mühe, auch weniger offensichtliche Zeichen wahrzunehmen.

In diesem Fall bringt er mir diese Situation mit, in allen Details und stellt die Frage: Wie muss ich in diesem Fall reagieren? Wir analysieren gemeinsam die Situation. Oft ist es klar, was zu tun ist. Hierbei fand ich das selber durchaus komplex. Schlussendlich habe ich ihm zu einer Gegenfrage geraten. Freundlich, ruhig bleiben und fragen: "Wieso sagt ihr das?" Das schiebt den Ball zurück, er gewinnt Zeit für seine Analyse der Situation, es fordert die Mädchen zu einer Reaktion auf und damit zu einem möglichen Hinweis, ob wir uns im Rot, Orange oder Grün-Bereich befinden.

Ziemlich komplex alles. Aber ich bin dankbar für das Vertrauen meines Sohnes. Manchmal ist es wie ein Spiel, er meldet dann, wenn er neue Erfahrungen gewonnen hat. Auch schon berichtete er stolz, er hätte eine spontane Idee gehabt, wie reagieren und hätte das grad ausprobiert. Er wird mutiger. Und sicherer. Er kombiniert Erfahrungen und nicht selten braucht er mich nur noch, um seine Reflektionen laut äussern zu können. Also zum Zuhören. Der Junge macht seinen Weg, ich bin sehr stolz. Und inzwischen weiss ich, dass es noch eine dritte Art gibt, das Rutschen zu lernen: Das Kind bei der Hand nehmen, ihm einmal zu zeigen, wie man Rutschbahn fährt und es dann alleine rutschen lassen.





Mutter mit Frust


Normalerweise bin ich ziemlich ausgeglichen und als ruhiger Pol im Familiengefüge bekannt. Mein Sohn (9) schätzt das. Aber lernt er so überhaupt, wie man mit zickigen, frustrierten oder ungeduldigen Menschen umgeht?

Kürzlich hab ich ihm ungewollt die Chance geboten, sich zu beweisen. Denn während andere bei der Steuererklärung, bei arroganten Mitmenschen oder unter starkem Druck zu Frust neigen, passiert mir das beim Backen. Das kann ich nicht. Das mag ich nicht. Dem geh ich aus dem Weg. Letztens ging es aber nicht anders. Ich war zu einem Dessertabend verabredet mit den Regeln, jede bringt ein Dessert. Ich dachte, ich schaffe das.

Aber wenige Minuten bevor ich das Haus verlassen musste war das – notabene im Internet unter "simpel" gekennzeichnete – Schokoladen-Dessert noch immer nicht fertig. Es sah scheußlich aus und ich versuchte zu retten, was zu retten ist. Leider mit überhasteten und wenig durchdachten Maßnahmen. Es endete im Desaster. Das unglücklich formulierte "ich hab s ja gleich gesagt" von meinem Mann gab mir den Rest und ich schnauzte völlig atypisch frustriert und genervt durch den Raum. Mein Sohn beobachtet das. 

Ich denke kurz an ihn. Schätze kurz das Risiko eines Overloads ab, sehe keine Gefahr und kümmere mich nicht weiter um sein Befinden. Ganz im Gegensatz zu ihm! Er steht auf und bewegt sich unmittelbar auf den brodelnden Krisenherd (mich) zu. Das verwundert mich. Und dann legt er tatsächlich seine Hand ganz fürsorglich auf meine Schultern und entscheidet sich, während er mir aufmunternd ins Gesicht schaut, für einen gut durchdachten Ratschlag:

"Du musst dir jetzt einfach eine dicke Haut zulegen. Im schlimmsten Fall wählst du eine Notlüge. Du könntest sagen, ich hätte das verschuldet. Das hast du doch auch schon einmal für mich gemacht." seine Hand liegt immer noch auf meiner Schulter.

Ich staune. Das Dessert bleibt zwar ein Desaster, nicht aber meine Stimmung. Die lockert sich deutlich. Mit der dicken Haut hat er Recht. Und ganz offensichtlich wendet er das, was ich ihm vorlebe und erkläre, sehr gekonnt an, wenn es darauf an kommt.

Sonntag, 6. April 2014

Der Sonntag Morgen im Eimer.


Asperger-Krisen auszuhalten ist grundsätzlich eine der High-Level-Herausforderungen für alle Eltern, aber muss es denn heute echt schon am frühen Sonntag Morgen los gehen?

Ich bin kaum eine Stunde wach, schon höre ich 2 Dutzend Argumentationen von meinem Sohn, wieso die Welt ungerecht ist und sich bis auf den Letzten alle gegen ihn verschworen hätten.

Er will an seinem iPad spielen, ich bin dagegen. Da höre ich eine äusserst komplexe Berechnung darüber, wie viel Zeit ich nach meinem Feierabend zur freien Verfügung hätte, abzüglich der Zeit, die ich im Verhältnis älter bin als er, gegenübergestellt mit der Zeit, die er selbst zur freien Verfügung hätte. Ahhh mein Kopf!

Das nächste wäre das morgendliche Duschen. Hier wird mir anhand einer detailgetreuen Rechnung über jene Tage, die er zuerst in die Badewanne musste versus jene Tage, an denen seine Schwester die erste war, die grosse ungerechte Welt veranschaulicht. Mein Gott Kind, mach es dir doch nicht selber so schwer!

Eine Schüssel gerüstete Erdbeeren wird der Anlass zum nächsten Unglück. Jetzt in Kombination mit einer Drohung ... wehe wenn die Schwester auch nur eine Erdbeere mehr hat als er. So ein Blödsinn!!! ... aber .... den "Blödsinn" zu erwähnen war eine ganz schlechte Idee ...

Immerhin müsse ich doch wissen, dass Asperger ganz empfindlich seien in Ungerechtigkeiten und überhaupt nicht damit umgehen können, wenn man mit ihnen schimpft ... so die Worte meines 7-jährigen Gegenspielers. Versucht er, mir ein schlechtes Gewissen einzureden? Will er es etwa damit entschuldigen, dass er sich wirklich kompliziert und daneben benimmt? Soll ich ihn zurechtweisen? Oder hole ich ihn erst aus der Krise heraus, in der er sich befindet, und kläre danach die Lage mit einem Gespräch? Vielleicht sollte ich auch einfach für MICH einstehen und mir das nicht gefallen lassen? Immerhin waren es geschätzte 25 Situationen innerhalb kürzester Zeit, die dem Monsieur nicht gepasst haben. Mal bisschen hart durchgreifen vielleicht? Drei Stunden massive Krise in Kauf nehmen? Den Sonntag streichen? Hm. Diese Asperger Kinder machen einen das Leben nicht leicht ... oder ....


... sieht man vielleicht einfach den Wald vor lauter Bäumen nicht mehr?


Ich hab's dann doch noch begriffen .... ich kämpfe hier nicht gegen die Herausforderung "Asperger"

... sondern gegen einen diesbezüglich stinknormalen, bald 8-Jährigen, der einfach zu spät ins Bett ging. Müüüüüüüüüüüüüüüde ist das Kind, that's it! Ein Mittagschläfchen wirkt wunder!

Man lernt nie aus! :-)